Was wir wissen können – Teil I

Der jüngste Roman von Ian McEwan trägt den Titel „What we can know“. Die englische Ausgabe ist bei Jonathan Cape in London erschienen, die deutsche Ausgabe mit dem Titel „Was wir wissen können“ bei Diogenes in Zürich. Bei der Übersetzung fallen Ungenauigkeiten und Abweichungen auf, die mit dem Einfluss bzw. dem Phänomen der Gendersprache zusammenhängen dürften. Auf S. 17 des Originals heißt es: „Scholars see, hear and know more of them, of their private thoughts, than we do of our closest friends.“ Das könnte man übersetzen mit „Wissenschaftler sehen, hören und wissen mehr über sie, über ihre privaten Gedanken, als wir über unsere engsten Freunde.“ Der Übersetzer macht daraus: „Die Forschenden sehen, hören und wissen mehr von ihnen, ihren privatesten Gedanken, als wir von unseren engsten Freunden.“ (S. 32) Nun sind alle Menschen Forschende, aber nur einige sind Forscher. Die Partizipform (es handelt sich um das Partizip Präsens), die nicht wenige Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen erzürnt, bedeutet etwas anderes als das Agensnomen. Sie wird gerne in der Gendersprache verwendet, um das generische Maskulinum zu vermeiden, wenn dieses irrtümlich auf männliche Personen bezogen wird. Auf Seite 19 der englischen Ausgabe liest man: „For the post-2030 crowd, which is most of the department, there’s even more.“ Das könnte man so wiedergeben: „Für die Generation nach 2030, die den Großteil des Fachbereichs ausmacht, gibt es sogar noch mehr.“ Der Übersetzer dichtet: „Und für die vielen Forschenden der Zeit nach 2030, die den größten Teil des Fachbereichs ausmachen, gibt es sogar noch mehr.“ Es geht um eine Generation des Fachbereichs, sodass man durchaus von Forschern sprechen könnte. Von Forschenden allerdings nicht – das verschiebt die Bedeutung. Auf Seite 20 des Originals steht: „Mary Sheldrake was among the most successful novelists of her generation.“ Dies könnte man übersetzen mit: „Mary Sheldrake gehörte zu den erfolgreichsten Romanautoren ihrer Generation.“ Erstaunlicherweise lautet die Stelle im deutschsprachigen Buch auf Seite 37: „Mary Sheldrake war eine der erfolgreichsten Schriftstellerinnen ihrer Generation.“ Das macht sie unbedeutender, als sie ist – sie ist in ihrer Generation nicht nur unter den professionell schreibenden Frauen eine der erfolgreichsten, sondern unter allen, die professionell schreiben. [Hier geht es zu Teil II.]

Abb.: Diogenes auf einem Gemälde